„Nicht im Stich lassen. Sich nicht und andere nicht“. Das aktuelle Poster der action 365 greift ein Zitat der Lyrikerin Hilde Domin auf. Wenn man jemanden im Stich lässt, missbraucht man das Vertrauen, das der oder die Andere in einen gesetzt hat. Im Leben von Hilde Domin (1909 - 2006) gab es Zeiten, in denen es tödlich endete, wenn man im Stich gelassen wurde. Als Jüdin blieb ihr unter der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten nur das Exil.
„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“ So lässt Bertolt Brecht im Jahr 1938 sein Gedicht „An die Nachgeborenen“ beginnen, ebenfalls aus dem Exil. Vierzig Jahre später greift Hilde Domin diesen Satz zu Beginn ihrer Römerbergrede wieder auf, setzt ihn jedoch in die Vergangenheit: „Wirklich, ich lebte in finsteren Zeiten!“ Für die deutsche Lyrikerin jüdischen Glaubens ist das Deutschland ihrer Gegenwart kein Schreckensort mehr. Somit waren die „finsteren Zeiten“ der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft Vergangenheit, der Blick sollte sich also in die Zukunft richten. In eine Zukunft, die ihrer Meinung nach humanitär gestaltet werden kann, wenn alle dazu beitragen.
Auf einem stoffähnlichen, grünem Hintergrund (Gestaltung: Florentine Heimbucher), entfaltet sich das Zitat in ganzer Länge: „Nicht im Stich lassen. Sich nicht und andere nicht. Und nicht im Stich gelassen werden. Das ist die Mindest-Utopie, ohne die es sich nicht lohnt, Mensch zu sein.“ Eine Utopie ist etwas, was in der Vorstellung existiert, aber noch nicht Wirklichkeit ist. Hilde Domin findet im Glauben an diese kleinstmögliche Utopie ganz einfache Regeln: das sich gegenseitige Nicht-im-Stich-Lassen und, damit verbunden, das gegenseitige Vertrauen aufeinander. Trotz der dunklen Zeit des Nationalsozialismus glaubt sie daran, dass der Mensch eigentlich gut sein kann, wenn er auf sich und andere acht gibt. Ohne diese einfachen Regeln, ohne das Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können, ist das Leben sinnlos. Wenn aber jede und jeder darauf achtet, andere nicht im Stich zu lassen, für andere da zu sein, dann ergibt sich ein fein gesponnenes Netzwerk der Humanität, der Menschlichkeit.
„Was brauche ich, um mich und andere nicht im Stich zu lassen? Gut auf mich selbst achten, damit ich auch auf andere achten kann. (…) Es geht nur in diesem Gleichgewicht und dieser Gleichzeitigkeit.“ Ruth Vogel variiert Hilde Domins Zitat in verschiedenen Situationen und betont die Sorge um sich selbst. Denn nur wer für sich sorgt, hat die Kraft, den Mut und die Stärke, gut für andere sorgen zu können. Es ist also kein egoistisches Verhalten, darauf zu achten, dass es einem gut geht. Es ist die Sorge um sich selbst und die anderen, die, wenn die Utopie Wirklichkeit werden würde, allumfassend und grenzübergreifend wäre. Ein fein gesponnenes Netzwerk der Humanität.
Text: Ulrike Maria Haak