Ein Kolibri umschwirrt eine exotische Blüte. Sein Bedürfnis, Nahrung aufzunehmen, hilft der Blume, sich weiter fortzupflanzen. Der Vogel wird satt, kann überleben, genauso wie der Fortbestand der Blumenart durch sein Tun gesichert ist. Man könnte es im negativen Sinne eine Abhängigkeit nennen, die beide zusammenschweißt. Positiv gesehen ist es eine Symbiose, die sie leben. Eine Gemeinschaft, von der beide Seiten etwas haben. Doch um Missverständnisse zu vermeiden: es geht nicht darum, aus diesem Verhältnis den größtmöglichen Profit zu ziehen. Übertragen auf unser Leben ist es ein Miteinander, bei dem beide etwas geben, ohne darauf zu spekulieren, dass sie eine direkte Gegenleistung dafür bekommen.
„Sie leben von einander“ – der Titel des Posters irritiert auf den ersten Eindruck: wir leben nicht voneinander, sondern miteinander. Die besondere Wortwahl ist jedoch gewollt: es ist ein viel stärkerer Sinn hinter dem „voneinander leben“, denn „miteinander leben“ kann man auch getrennt, jeder für sich. Der Gedanke von Gemeinschaft, die lebensnotwendig ist, schwingt mit in diesem „voneinander leben“. Zugleich ist der Grat sehr eng, an dem das „voneinander“ umkippt in ein Verhältnis, von dem die eine Seite mehr profitiert als die andere. Solange sich dieses Verhältnis wieder ausgleicht, ist die natürliche Ordnung nicht gestört. Mit rein wirtschaftlichen Maßstäben sollte der Satz allerdings nicht interpretiert werden. Denn das würde bedeuten, dass die eine Seite nur solange an der Gemeinschaft teilnimmt, wie es ihr direkten Nutzen bringt. Vertrauen ist wichtig. Der Vogel vertraut blind darauf, dass er in der Natur immer genug Nahrung finden wird. Die Blume kann nicht anders, als dass sie jedes Jahr blüht. Das empfindliche Gleichgewicht in der Natur ist allerdings durch den Eingriff des Menschen auf vielen Gebieten schon unwiederbringlich zerstört. Umso wichtiger sind Bewegungen wie „Fridays for Future“, die endlich eine wirksame Politik gegen den Klimawandel einfordern. Mit Konsequenzen für jeden von uns.
„Einander brauchen mit Herz und Hand, gemeinsam weben ein buntes Band. Einander tragen in Traurigkeit, gemeinsam heilen die Traurigkeit. Einander helfen in Leid und Not, gemeinsam danken für Wein und Brot“. Die Zeilen des evangelischen Theologen Okko Herlyn sind bewusst einfach gehalten, in ihrer schlichten Reimform erinnern sie an Volkslieder oder Lebensweisheiten. Das macht sie umso eindringlicher. Im Grunde beschreibt Herlyn hier die Dinge, die im menschlichen Miteinander so dringend erforderlich sind. Vor allem aber den Zusammenhalt in guten wie in schlechten Zeiten. Das Leben in einer sozialen oder religiösen Gemeinschaft kann diese Kraft spenden, genauso wie das in einer liebevollen Ehe und einem intakten Familienverband.
Die Gewissheit, dass es etwas gibt, was über den alltäglichen Niederungen und Höhepunkten steht, gibt Kraft, das Leben mit allen Höhen und Tiefen zu meistern. Als Teil eines höheren Ganzen. Denn über allem schwebt der Gedanke: „Voneinander leben“. Nicht: gegeneinander. Und vor allem nicht: allein.
Text: Ulrike Maria Haak