Bis hierher und nicht weiter – eine Grenze macht unmissverständlich deutlich, dass auf dem eingeschlagenen Weg kein Weiterkommen ist. Mehr oder weniger gesichert und bewacht, soll die Grenze zwischen zwei Ländern den eigenen Status quo sichern und vor Eindringlingen, die nicht erwünscht sind, schützen. Doch nicht immer klappt das, denn wenn Menschenrechte verletzt werden, sollten Grenzen fallen: Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 ist wohl das beste Beispiel dafür. Damals öffnete Deutschland Geflüchteten vor allem aus Syrien seine Grenzen. Eine Entscheidung, die die Gräben zu den extremistischen politischen und gesellschaftlichen Kräften noch vertiefte und radikalen Parteien Zulauf bescherte.
Grenzsituationen – Situationen also, in denen sich konträre Positionen gegenüberstehen, gibt es viele: in Wahlkämpfen machen Politiker*innen sich gegenseitig schlecht, beschimpfen und verhöhnen sich. Und auch die verzweifelte Lage in Afghanistan, unter der Schreckensherrschaft der Taliban, löste bei deutschen Politiker*innen die Furcht vor einer Wiederholung der Erfahrungen von 2015 aus. „Die Flüchtlingskrise darf sich nicht wiederholen“, so oder ähnlich lauteten die Sätze. Eine Sorge, so zynisch wie unverständlich angesichts des menschlichen Elends.
„Grenzsituationen“ – das Wort verläuft in Großbuchstaben senkrecht über farbig gestaltete Flächen: ist die linke Seite am oberen und unteren Rand rein gelb, so nimmt sie im Verlauf zur Mitte hin immer mehr von der violetten Farbe der rechten Seite auf. Es gibt also nicht nur ein hartes Gegenüber, sondern die Farben nähern sich an, ohne ihre eigene Farbigkeit einzubüßen. Konträre Positionen zwischen zwei gesellschaftlichen Lagern müssen nicht unversöhnlich und festgefahren sein. Es ist ein Kernelement des christlichen Lebens, aufeinander zuzugehen und gemeinsam einen Weg der Nächstenliebe und des Vertrauens in konstruktive Lösungen einzuschlagen. Positionen müssen nicht erbittert unter allen Umständen gehalten und verteidigt werden. Es sollte kein Krieg herrschen zwischen gesellschaftlichen Meinungen und politischen Überzeugungen. Im aufmerksamen Zuhören und anschließendem Austausch lassen sich Gemeinsames und Ähnliches entdecken und neue Wege beschreiten.
Es geht darum, im Dialog zu bleiben und „ein Drittes, jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen“, so das Zitat des Religionsphilosophen Paul Tillich (1886 – 1965). Tillich verlor bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten seinen Beruf und emigrierte 1933 in die USA. Einer, der erfahren hatte, was es heißt, Grenzen zu überschreiten und etwas Neues zu beginnen. Er begriff die Grenzsituation als Chance, Neues zu schaffen. Nicht allein, sondern in der Auseinandersetzung mit anderen. In einem ständigen Prozess: Im Aufnehmen anderer Meinungen entwickelt sich die eigene Meinung und Haltung weiter, in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen reift die eigene Position. Politiker*innen aller Parteien sollten Verbalschlachten einstellen und sich auf ein konstruktives Miteinander verständigen. Denn nur so können die gesellschaftlichen und globalen Probleme, allen voran der Klimawandel, Flucht und Migration, wirksam angegangen werden.
Text: Ulrike Maria Haak