Mit den Anschlägen von Ansbach und München ist die Bedrohung ganz nah bei uns angekommen. Nicht mehr nur Paris oder Brüssel, sondern auch Provinz- und Hauptstädte bei uns können jederzeit zu Schauplätzen des internationalen Terrorismus oder von Amokläufen werden. Die Angst ist allgegenwärtig. Das bis dahin so sicher und leicht scheinende Leben in Deutschland ist einer nicht zu greifenden Furchtsamkeit und Vorsicht gewichen. Zu leicht kann Angst in Hass umschwenken.
Es wäre nur naheliegend, nur allzu menschlich, würden die Angehörigen der Opfer von München ihrem Hass auf den Täter freien Lauf lassen. Vordergründig wäre es gerecht, den Mörder, der zum Selbstmörder wurde, für alle Zeiten zu verurteilen. Doch Gerechtigkeit hilft den Opfern und ihren Familien nicht weiter. Und selbst den Hass hat der Mörder nicht verdient: Hass ist das Gegenteil von Liebe, er ist ein allzu starkes Gefühl, das langfristig nur denen schadet, die ihn fühlen. Das Jahr des Schreckens ist auch das Jahr der Barmherzigkeit, Papst Franziskus hat den Zeitraum zwischen 8. Dezember 2015 und 20. November 2016 zum Jahr dieser vergessen geglaubten christlichen Tugend ausgerufen. Barmherzigkeit ist eine Tugend, die allen großen Weltreligionen gemeinsam ist: sowohl Christen als auch Juden und Muslime kennen den Begriff aus ihren Schriften. Ein Begriff also, der Einigkeit und Verständnis schaffen kann zwischen den Religionen – eine Chance.
Mitleid, gar Barmherzigkeit zu empfinden mit den Tätern im Angesicht des Schreckens scheint auf den ersten Blick nicht gerechtfertigt, ja absurd. Und doch: gerade im Gefühl der Barmherzigkeit liegt eine übermenschliche Kraft wie es Bundespräsident Joachim Gauck bei der Gedenkfeier für die meist jugendlichen Opfer des Amoklaufs in München treffend in Worte gefasst hat.
Barmherzigkeit ist nicht nur im Christentum bekannt, Ansätze dafür gibt es praktisch in allen Kulturen. Mit Goethe gesagt ist das Charakteristische der Barmherzigkeit, dass man dem anderen nichts antun soll, was man selber nicht will, dass es einem angetan wird. So verstanden ist Barmherzigkeit nicht nur eine Gewissensübung für Christen, sondern sie ist ein Grundstein der neuzeitlichen Menschenrechte.
Das aktuelle Poster der action 365 zeigt eine brennende Kerze auf einem Weg, der ins Ungewisse zu führen scheint. „Barmherzig ist ER allen“ steht darauf (Gestaltung: Gottfried Pott). Die Botschaft: Richten wird ein anderer. Uns Menschen bleibt die Vergebung. Denn nur im Verzeihen liegt die Zukunft. Verzeihen bedeutet nicht Vergessen. Der Schmerz über unwiederbringliche Verluste bleibt. Lebenslänglich. Damit er nicht zum Gefängnis wird, muss man sich nach und nach davon befreien. Nur in der Bereitschaft zur Vergebung durch Barmherzigkeit erheben sich die unschuldigen Familien der Opfer über die triviale Niedertracht des gewaltsam herbeigeführten Todes. Indem sie den Hass aufgeben, machen sie sich gerade nicht zu Gefangenen der Mörder. Es scheint eine übermenschliche Aufgabe. Aber in ihr liegt die Freiheit, die Zukunft weiter aktiv in Liebe und Mitmenschlichkeit gestalten zu können. Gegen jeden Angriff auf unsere Werte.
Text: Ulrike Maria Haak