Naturgewalt des Rechts
„Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“ – so lautet das Jahresmotto der action 365: eine Aussage, die hochaktuell in unsere Zeit passt.
Wer hätte gedacht, dass dieser Satz sieben Jahrhunderte vor Christi Geburt verfasst wurde? Von einem Hirten und Maulbeerbauern namens Amos, einem alttestamentarischen Propheten, der sich voller Elan mit den Mächtigen seiner Zeit anlegte. Das Poster stellt das Jahresmotto in kalligraphischer Weise in den Mittelpunkt (Gestaltung: Gottfried Pott). Die Aussage ist so kraftvoll, dass sie erst einmal für sich stehen und Wirkung entfalten kann.
Leicht zu verdauen sind die Schimpftiraden des Propheten Amos gegen Völlerei, Vielweiberei, Verschwendungssucht, Ausbeutung der Armen, Verfehlungen der Herrschenden und Anbetung fremder Götter nicht. Schlimme Strafen droht er im Namen Gottes an, so groß muss seine Verzweiflung über die herrschenden Zustände gewesen sein. Amos wütet jedoch nicht nur gegen die Verfehlungen seines Volkes, sondern auch gegen die anderer Ethnien. Er bezieht sich nicht nur auf das eigene Volk, sondern prangert Verfehlungen unabhängig von der Volkszugehörigkeit an, was dem Text eine erstaunliche Modernität verleiht: Hier wurden schon die Grundlagen des heutigen Völkerrechts gelegt. Für eine höhere Instanz, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Und dann, zwischen Strafandrohungen und Beschreibung der schrecklichen Zustände auf einmal dieser Satz: „Das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach“. Ein kurzes Innehalten, ein Aufatmen, ein Wunschdenken, ein Flehen inmitten dieser aussichtslosen Situation, der Unbelehrbarkeit des Volkes. Amos wünscht sich das Recht als natürlich gegebenes Element inmitten unseres Lebens, Gerechtigkeit als einen Bach, aus dem wir unseren Durst stillen können, wenn es das Leben mal wieder nicht gut mit uns meint. Den Durst nach Verständnis, Geborgenheit und Liebe.
Aus seiner Vergangenheit als Hirte und Maulbeerbauer in der kargen Landschaft Israels weiß Amos, was Wasser bedeutet: Es macht Überleben erst möglich, es nährt und hält uns am Leben, es spendet Frische, Freude und Reinigung. Es ist der kostbarste Schatz der Menschen im Kampf mit den oft unwirtlichen Elementen. Trockenheit bedeutet Dürre und Hunger, Sterben und Tod – Wasser dagegen ist das Leben, bedeutet Neubeginn, Aufbruch, Nahrung und Frieden. Der frühe Gesellschaftskritiker Amos ließ sich von Drohungen und Strafen gegen seine Person nicht von seinem Anliegen abbringen. Er sollte mit seiner unerschütterlichen Zivilcourage Vorbild für alle kommenden Generationen sein. Gerechtigkeit als eine Naturgewalt, die über die Menschen kommt und sich durchsetzt – ein Wunsch, der heute aktueller ist denn je.
Text: Ulrike Maria Haak