Es ist das Jahrhundert der Flüchtlinge: mehr als 50 Millionen Menschen weltweit sind auf der Flucht. Mit welchem Recht will Europa sich abschotten? Siebzig Jahre mehr oder weniger reinen Friedens haben sich an das Ende des Zweiten Weltkriegs angeschlossen. So gesehen leben die Europäer auf einer Insel der Seligen, die sie gern gegen alles Fremde von außen verteidigen wollen. Den Wohlstand, die sozialen Netze, die gesundheitlichen Standards, die Bildungssysteme – dies alles soll nur nutzen, wer auch dafür bezahlt hat. Ein kapitalistisches Denken, das auf Leistung, nicht auf Mitleid ausgerichtet ist - eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung. Das Poster zitiert nüchterne Fakten, deren Wirkung umso stärker ist: gemessen an der Zahl der Einwohner bildet Deutschland, eines der wohlhabendsten Länder, das Schlusslicht bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Die Geschichte der Menschheit ist reich an Geschichten von Flucht und Vertreibung. Und auch die Bibel erzählt von dem Auszug des israelischen Volkes aus Ägypten und, noch früher, von Noah, der Gottes Rat befolgte und eine Arche baute. Eine solche Arche, auch im übertragenden Sinne, täte heute wieder Not. Menschen, die sich auf das Gebot der Nächstenliebe besinnen und konkret Hilfe anbieten für Mitmenschen in Notlagen. Nationalität, Staatsangehörigkeit, Kulturkreis – diese Kriterien können nicht gelten, wenn akute Lebensgefahr herrscht. Schweigeminuten für die tausende Toten, die im Mittelmeer allein in den letzten Monaten ertranken, sind ein Zeichen der politischen Hilflosigkeit.
Der Zweite Weltkrieg hat schon einmal vor Augen geführt, welche Ausmaße das Leid von Vertriebenen und Flüchtlingen annehmen kann. Niemand hatte auf sie gewartet nach 1945, auf sie, die alles verlassen und zurücklassen mussten. Damals waren es Deutsche, die in Deutschland eine zweite Heimat suchten und als Fremde behandelt wurden. Heute sind es Leidtragende aus der ganzen Welt, die im vermeintlich gelobten Land eine Bleibe suchen. Viele hoffen naiv auf das große Glück, haben sich Schlepperbanden anvertraut, die aus der Not ein lukratives Geschäft gemacht haben. Doch die Mehrzahl kommt aus größter Verzweiflung. Kein Mensch verlässt seine Heimat ohne Not. Die Verfahren zur Aufnahme und Eingliederung derer, die sich aktiv am gesellschaftlichen Leben in Deutschland und Europa beteiligen wollen, müssten der neuen aktuellen Situation angepasst und schon in den Heimatländern angeboten werden. Nur so kann das unwürdige Sterben in überfüllten Booten auf dem Mittelmeer, vor den Toren Europas, endlich ein Ende finden.
„Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten“, ein Zitat aus dem Alten Testament und zugleich eine echte Herausforderung für jeden von uns. Haben wir doch manchmal schon Schwierigkeiten, mit dem nächsten Nachbarn auszukommen, so beinhaltet dieser Satz eine Chance für jeden einzelnen, über sich selbst hinauszuwachsen und an der christlichen Idee zu lernen.
(Gestaltung: Gottfried Pott; Text: Ulrike Maria Haak)