Es ist immer wieder verwunderlich, dass die Zeit trotz schrecklicher Ereignisse weiter fließt, dass der Frühling in einen Sommer, der Sommer in einen Herbst übergeht, auch in diesem Jahr. Dem Jahr der Zeitenwende für Europa: es herrscht wieder Krieg, ein grausamer Krieg mit dem Mitteln des letzten Jahrhunderts. Nicht weit von uns, in der Ukraine, haben schon mehrere zehntausende Menschen ihr Leben verloren, abgeschlachtet unter der zynischen Behauptung Putins, eine Spezialoperation zum Schutz seines Landes, Russland, zu führen.
Und es ist erschreckend, dass die Propaganda Putins sein Volk fest im Griff hat, ja auch in Deutschland gibt es zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger, die ihm und seiner Politik blind vertrauen und die Ukraine in einer perversen Umkehrung der Tatsachen als Schuldige für alle Kriegsgräuel sehen.
In diesem zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext kommt das aktuelle Poster der action 365 heraus: „Ich kann nicht Trauben keltern und trinke doch den Wein“, lautet das Hauptzitat aus einem Liedtext des Dichters Arnim Juhre. Es entstammt einem seiner geistlichen Liedtexte aus dem Jahr 1979 – damals war die Weltlage auch um einiges angespannter als wir es bis zur diesjährigen Zeitenwende gewohnt waren. Der Westen sah sich einem festen Ostblock gegenüber, politische Entscheidungen zur nuklearen Abschreckung wurden erwogen, Deutschland war froh, Teil des Nato-Verteidigungsbündnisses zu sein. Dann folgte in den 1990er Jahren die Entspannungsphase unter Gorbatschow, die die deutsche Politik irrtümlicherweise bis heute auch unter Putin fortgesetzt sehen wollte. Umso schlimmer das Erwachen in Kriegszeiten am 24. Februar 2022.
„Ich kann nicht Trauben keltern und trinke doch den Wein“ – ein eindrucksvolles Zitat, das vor dem jetzigen Hintergrund vielschichtige Bedeutungen mitschwingen lässt. Ursprünglich gedacht als Hinweis auf das Miteinander und die Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt, in der einige privilegierte westliche Länder sich auf die Produktionsstätten in den ärmeren Gebieten dieser Erde verlassen, bekommt es heute noch folgenden Sinn: die Ukraine kämpft stellvertretend für die westlichen Demokratien einen verzweifelten Kampf um ihr Land, gegen Putins perverse, aus der Zeit gefallenen Herrschaftsphantasien. Die Mehrheit von uns kann und muss auch nicht die Reihen der Soldaten schließen und ebenso mutig sich dem Feind entgegenstellen. Aber wir können anderweitig unterstützen, beten, organisieren, hoffen und beistehen. Es geht darum, gegenseitige Verantwortung in einer globalisierten Welt zu übernehmen, aber auch für einen Krieg vor unserer Haustür.
„Wer mich ansieht, sieht viele andere nicht, die mich ernährt, gelehrt, gekleidet haben (…)“, so ein weiteres Zitat aus dem Lied von Arnim Juhre. Den Unsichtbaren ein Gesicht geben, das ist das Mindeste, was wir tun können, sowohl der Näherin unserer Kleidung in Bangladesh als auch den Soldatinnen und Soldaten an der Front im Osten der Ukraine.
Das Leben im Lauf der Jahreszeiten geht weiter, hier im Frieden, dort in einem schrecklichen menschenverachtenden Krieg. Wir können etwas tun, können helfen, ob finanziell oder ehrenamtlich, ob durch Taten oder Worte. Und vor allem sollten wir niemals zulassen, dass die Taten dieser Kriegsverbrecher in Vergessenheit geraten.
Text: Ulrike Haak