Seit mehr als einem Jahr Pandemie werden unsere Grundrechte eingeschränkt. Zum Wohle aller, zur Bekämpfung der Pandemie, verzichten wir auf die Freiheit, in den Urlaub zu fahren, Freunde und Freundinnen und Verwandte zu treffen und abends vor die Haustür zu gehen. Der Hunger nach dem Ende des Lockdowns, nach Freizügigkeit, Geselligkeit und Urlaub ist groß. Und mit den Impfungen wird dies auch bald wieder möglich sein.
„Frei. Sein. Wollen.“ So titelt das aktuelle Poster der action 365, auf dem ein Mensch entspannt in einem zur Hängematte umfunktionierten Fischernetz am Meer liegt. „Frei. Sein. Wollen“ – das sind drei Worte, die jedes für sich wie eine Forderung, ja auch wie ein Bekenntnis klingen. Die kurze Erzählung von Heinrich Böll, über die Unterhaltung eines Touristen mit einem Fischer, der zufrieden mit seinem Fang, auch am nächsten Tag nicht hinausfahren möchte, zeigt die Kluft zwischen zwei Welten auf: Der Tourist hat hart gearbeitet, damit er sich den wohlverdienten Urlaub leisten kann, er ist ganz das Mitglied einer Leistungsgesellschaft. Der Fischer dagegen ist zufrieden mit seinem Tagewerk und hat nicht den Ehrgeiz, mehr Fische zu fangen, Leute einzustellen, viel Geld zu verdienen und sich dann erst zur Ruhe zu setzen und aufs Meer zu schauen – das könne er ja jetzt schon.
Beide sind frei, sich zu entscheiden: für ein Leben unter Leistungsdruck, Leben, um zu arbeiten - oder aber arbeiten, um zu leben. Es gehört eine Portion Egoismus dazu, sich wie der Fischer zurück zu lehnen und nicht zu fragen, was er sonst noch für die Gesellschaft und seine Mitmenschen tun könnte. Gerade in diesen Zeiten sind wir froh, dass in Krankenhäusern und Seniorenheimen Menschen arbeiten, die weder an das große Geld noch an ihre eigene Bequemlichkeit denken. Sie sind die eigentlichen Heldinnen und Helden dieser Zeit, denn bei ihnen bekommt die Pandemie Gesichter, sie kämpfen jeden Tag um Menschenleben und haben mit den psychischen Folgen dieser Belastungen umzugehen.
Als Böll diese Anekdote, wie er sie nannte, vor über fünfzig Jahren verfasste, befand sich Deutschland im Aufschwung der Wirtschaftswunderjahre. Urlaube in fernen Ländern waren möglich, jeder strebte nach Selbstoptimierung. Dem stellte Böll die romantisch verklärte Figur des Fischer gegenüber, mit der Pointe, dass er schon erreicht habe, was der Tourist erst nach einem strebsamen Arbeitsleben erreichen würde. Für die heutige Zeit hätte die Erzählung von Böll noch diese Ergänzung gebraucht: einen dritten Menschen, der eine der Berufsgruppen präsentiert, die gerade jetzt Dienst in Krankenhäusern und Seniorenheimen tun. Denn gerade in existentiellen Zeiten wie diesen sind Gesellschaften darauf angewiesen, dass nicht jeder nur sein eigenes Auskommen im Blick hat. Menschen, die sagen, dass sie frei sind, helfen zu wollen.
Text: Ulrike Maria Haak