Fülle des Lebens – dankbar genießen
Wir müssen aufpassen, dass uns in diesen Zeiten nicht eine der größten Gaben des Lebens abhanden kommt: das Gefühl der Dankbarkeit. In der Fülle des Sommers, dem überbordenden Farbenspiel der Natur und der bevorstehenden Ernte ist die Erinnerung an das tiefe Gefühl von Dankbarkeit besonders leicht hervorzurufen. Und es tut gut, hinter all diesen Wundern des alljährlichen Naturschauspiels eine höhere Macht zu wissen, die selbstlos schenkt. Ein Vorbild, fern von jeglicher menschlicher Schwächen wie Geiz, Berechnung und Habgier.
Es klingt wie ein Stoßgebet: „Oh mein Gott – Möge doch deine Großherzigkeit mich lehren, was Seelengröße ist. Möge deine Freigiebigkeit mich davor bewahren, knauserig zu sein. Damit ich auch meinerseits gebe, ohne zu rechnen, ohne zu messen.“
Dom Helder Camara (1909-1999), brasilianischer Erzbischof von Olinda und Recife, entwarf diese Zeilen. Unermüdlich setzte er sich für die ein, die keine Stimme hatten: die Bewohner der brasilianischen Elendsviertel. Aufgehoben in der Gewissheit, ein Beschenkter im Glauben zu sein, konnte er geben, ohne auf Anerkennung oder Dankbarkeit zu zählen.
Wir müssen nicht bis in die Armenviertel Brasiliens reisen, um ähnlich geben zu können. Das Elend liegt oftmals sehr nah. Es genügt, genauer hinzuschauen, um die kleinen oder größeren Bedürfnisse unserer Mitmenschen wahrzunehmen. Hier sollten wir handeln, im Sinne von Dom Helder Camara, ohne zu rechnen, ohne zu messen, aus Freude am Helfen. Wir sollten aufpassen, das Wunder der Dankbarkeit nicht zu verpassen. Die Dankbarkeit, die wir selbst geben, und die Dankbarkeit, die zurückkommt: ohne sie zu erwarten, wird sie zum größten Geschenk.
Text: Ulrike Maria Haak